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Maria und Josef beim Nikolaus in Filsum

 

Am Vorabend des Nikolaus 2019 organisierte unser Sportverein gemeinsam mit dem Bürgerverein im Vereinsheim zwei Veranstaltungen. Erst den Besuch des Nikolaus für die kleineren Kinder und direkt im Anschluss eine Verknobelung für alle älteren Jahrgänge.

 

Meine Aufgaben als Helfer beschränkten sich auf die Vorbereitung  des Raumes  und den Thekendienst während der Verknobelung. Dadurch bot sich mir die Gelegenheit den Nikolausbesuch in aller Ruhe verfolgen zu können. Kurz nach dem Eintreffen der ersten Gäste stellte ich mich vor die Heizung am Fenster und erwartete neugierig  die weiteren Besucher und das Erscheinen des Nikolaus.

 

Langsam füllte sich der Raum mit den Kinder und ihrer Begleitung. Diese bestand oft nicht aus der Mutter oder dem Vater, sondern aus der Oma und manchmal sogar zusätzlich noch dem Opa. Da einige Kinder ihre Geschwister mitbrachten,  war der Raum zu Beginn der Veranstaltung zu gleichen Teilen mit Erwachsenen und Kindern gefüllt.

 

Trotz der vielen Gäste blickte ich - wie es auf einem Dorf halt üblich ist - nur in bekannte Gesichter. Es gab kaum jemanden, von dem ich den Namen nicht wusste. Zu diesen Ausnahmen zählten zwei Flüchtlingskinder und ihre Mutter. Von ihnen wusste ich, dass sie am Ortseingang an der Hauptstraße wohnten. Das war jedoch auch alles. In ihrer Zurückhaltung  suchte die Mutter mit ihren beiden Söhnen einen Platz an der Seite und fand ihn ganz in meiner Nähe. Da ich annahm, dass ihre Kinder einen Nikolausabend in dieser Form nicht kannten, freute ich mich über die Möglichkeit, ihre Reaktionen aus nächster Nähe beobachten zu dürfen.

 

Kurz zusammengefasst konnte man den Nikolausabend als sehr gelungen betrachten.  Groß und Klein waren zufrieden und  auch der Nikolaus, der sich wahrscheinlich mehr als die Kinder auf diesen Abend gefreut hatte, wusste zu überzeugen.

 

Während der Verknobelung hatte ich hinter der Theke des Vereinsheims nur wenig mehr zu tun als während des Besuchs vom Nikolaus. Jeder war damit beschäftigt an den Tischen eine Torte, einen Stutenkerl und ähnliches zu gewinnen. Kaum jemand kam auf den Gedanken, sich an der Theke ein Getränk zu kaufen. Lediglich ein paar Spieler der ersten Herren gesellten sich zwischendurch an die Theke. Mein Plan möglichst bequem durch diesen Abend zu kommen, ging also auf.

 

Vermutlich hätte ich mich hinter der Theke sogar gelangweilt, wenn nicht Ihno, ein alter Bekannter aus meiner Siedlung an den Tresen gekommen wäre und mir etwas gab, was mich von da an den ganzen Abend und darüber hinaus beschäftigte. 

 

Es handelte sich um einen kleinen Koffer. In ihm befanden sich, in etwas Stroh eingebettet, kleine Figuren aus dem Krippenspiel und ein kleines Heft.  Welche Figuren es genau waren, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall befanden sich Maria und Josef, das Christkind und einige Tiere darunter. Ihno hatte mir gesagt, dass dieser Koffer während der Adventszeit von Haus zu Haus geht und jeder in das Heft etwas zum Thema Adventszeit und Weihnachten schreiben solle. Ich hätte also bis zum nächsten Tag Zeit etwas in das Heft zu schreiben. Danach müsse  der Koffer an die nächste Person oder Familie weitergereicht werden. Organisiert sei alles von der Kirche und am Heiligabend müsse der Koffer zurück zur Pastorin gebracht werden.

Ich stellte den geöffneten Koffer hinter mir auf die Ablage und sah, wie Ihno sich wieder entfernte.  Im Laufe des weiteren Abends drehte ich mich regelmäßig zum Koffer um, betrachte Maria und Josef und fragte mich; “Was schreibe ich nur in dieses Heft? Das eine oder andere Mal drehte ich mich jedoch auch um, weil ich mich irgendwie beobachtet fühlte.

 

Selbst auf dem Spaziergang nach Hause ging mir die Frage, was ich denn nun in dieses Heft schreiben könne, nicht aus dem Kopf. Schließlich musste ich am nächsten Tag arbeiten und hätte somit nur den späten Nachmittag des kommenden Tages Zeit. 

 

Daheim ging ich in mein Büro, legte den Koffer auf den Schreibtisch, öffnete ihn und betrachtete mir die Figuren etwas näher. Seite für Seite blätterte ich durch das Heft in der Hoffnung eine Anregung für meinen Beitrag zu finden. Aber irgendwie passte nichts. Ich legte das Heft wieder an die Seite und surfte noch etwas im Internet. Den Koffer neben der Tastatur beachtete ich nicht weiter. Nach dem Lesen der Nachrichten ging ich ins Bad, putzte mir die Zähne und ging zu Bett.



Die Tür vom Büro schließt sich. Maria und Josef öffnen die Augen. Josef gibt dem Esel etwas Stroh aus dem Koffer und schaut auf den Monitor. Er gibt seiner Frau einen kleines Stups, zeigt auf den Bildschim mit der Tastatur davor und spricht:  "Hast du gesehen Maria? An diesem Gerät kann man sich über alle möglichen Dinge informieren. Wie ich gesehen habe, ist die Bedienung gar nicht so schwer. Ich probiere es mal."  Josef setzt sich an den Bildschirm und findet sich schnell mit dem Gerät zurecht. Stunde um Stunde vergeht und was er auf den Nachrichtenseiten des Internets sieht, erschreckt und entsetzt ihn. So viel Dummheit und Hass, Gier und Elend, Krieg und Zerstörung. Und überall diese Zukunftsangst.

  

Er wendet sich an seine Frau und klagt: “Ach Maria, jetzt sind über 2000 Jahre vergangen und es ist noch alles genauso schlimm wie zu unserer Zeit. Alles war umsonst! Nichts hat sich verändert!” Während er dies spricht, fließen ihm Tränen über seine Wangen. Maria denkt kurz nach, nimmt die Hand von Josef und antwortet lächelnd mit sanfter Stimme:

 

“Nichts hat sich verändert? Denkst du das wirklich? Was haben wir denn heute in diesem Vereinsheim erlebt? Wir sahen einen Nikolaus, für den der Vorabend zum 6. Dezember vielleicht der schönste Moment und der Höhepunkt des ganzen Jahres ist. Der Abend, wo er Nikolaus sein darf und all die Kinder glücklich machen kann. Gibt es einen besseren Nikolaus? 

Und war da nicht diese Frau mit Kopftuch und ihren zwei kleinen Söhnen. Sie ist mit ihrer Familie aus einem Land, ganz nahe unserer Heimat, geflohen und wurde hier aufgenommen. Auch heute, an diesem Abend, waren sie willkommen. Hast du die Augen ihrer Jungs gesehen und wie sie strahlten, nachdem sie ihr Geschenk vom Nikolaus erhielten? Für ein Foto durften sie sogar auf dem Schoß vom Nikolaus sitzen. So wie all die anderen Kinder.

 

Und überhaupt die anderen Kinder! Ist dir nicht aufgefallen, wie alle nur Augen für den Nikolaus hatten? Einige konnten es ja kaum abwarten dem Nikolaus ein Gedicht aufsagen zu dürfen oder ihm etwas vorzusingen. Wie rührend kümmerten sich die anderen Kinder und Erwachsenen, wenn eines von den ganz jungen und kleinen Kindern aus Angst vor diesem fremden Mann im roten Mantel weinen musste. Wie sich die Kinder freuten, wenn sie ihr Geschenk erhalten hatten und zurück zu ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Oma oder ihrem Opa liefen. Diese Freude in ihren Gesichtern.

 

Und sowieso die Erwachsenen. Vielen war ja förmlich anzusehen, wie sie an ihre eigene Jugend denken mussten. Gleichzeitig  versuchten sie all das Schöne, was sie in ihrer Kindheit zu Nikolaus erlebten oder sich wünschten erlebt zu haben, ihre Kinder erfahren zu lassen. Weil sie spüren oder wissen, wie viel Kraft eine schöne Kindheit einem Menschen für das ganze Leben geben kann.

 

Was haben wir heute viel Schönes und Gutes gesehen. Dabei war das nur der Nikolaus in diesem kleinen, ostfriesischen Dorf! Und all das, all dies Schöne und Gute ist noch kein Vergleich zu dem, was noch kommen wird!”

 

Josef beruhigt sich wieder und in seinem Gesicht ist der Stolz eines Vater zu erkennen. Er ist auch stolz und dankbar eine solche Frau zu haben. Gerade in dem Moment, in der er zu Maria sprechen möchte, hören sie Geräusche aus dem Flur. Maria hält Josef die Hand vor den Mund und flüstert: “Sei still, da kommt jemand.”



Noch nicht ganz wach betrete ich am frühen Morgen mein Büro. Trotz meiner Müdigkeit  ärgere ich mich bereits über mich und schimpfe: “Jetzt habe ich schon wieder den Rechner angelassen. Ich lerne es einfach nicht! Merkwürdig, was ist denn das für eine Webseite? The Jerusalem Post? Was ich am späten Abend auch so alles anklicke!?"

 

Aber ich ärgerte mich auch nicht allzu sehr über meine Nachlässigkeit vom Vorabend. Dafür war meine Stimmung zu gut . Schließlich wusste ich inzwischen, was ich in dieses Heft schreiben würde.

 

 

Jürgen Collmann